Rudolf Schumacher von der Königsstraße (Thälmannstr.) um 1905 bis um 1930
Die Königstraße in Putlitz
- Häuser und Menschen im
ersten Drittel des 20. Jahrhunderts
um 1905
um 1930
Verfasser: RUDOLF SCHUMACHER • Soltau
Häuser und Menschen der Königstraße in Putlitz im ersten Drittel des 2o. Jahrhunderts.
Die Königstraße heute trägt sie einen anderen Namen wurde in der Umgangssprache früher als Nummer 1 der wenigen Straßen unserer kleinen Stadt oft auch „ Groote Stroat „ genannt.
Von der Stadtmühle am Stepenitzwehr verläuft sie nach einer schwachen Krümmung schnurgerade in einer Länge von etwa 3oo Metern bis zur Einmündung der Friedrichstraße beim Grundstück Haus Nr. 24 und stellt die verbindende Verkehrsader für die von Perleberg, Pritzwalk und Meyenburg zur nahen mecklenburgischen Grenze führenden Landstraßen dar.
Eine breite, kopfsteingepflasterte Fahrbahn, beiderseits plattenbelegte Bürgersteige, begrenzt durch die alten Wohn- und Geschäftshäuser, so blieb die Straße im Wandel der Zeiten fast unverändert.
Rathaus, Standbild des alten Kaiser Wilhelms T., der Marktplatz, über dem die jetzt 1?o Jahre alte Friedenseiche schützend ihr weites Geäst breitet, die Stadtapotheke am Markt mit ihrem schmükkenden Namen „königl.preuss.priveligierte Löwenapotheke“, schließlich auch die evangelische Stadtkirche: sie prägten Charakter und Bild der Straße, in der ich im Hause Nr. 19 meine Jugend bis zum Jahre 1928 erlebte.
Aus der Erinnerung an jene Zeit schreibe ich diesen Rückblick.
Um den Kirchplatz, unter dessem holprigen Pflaster viele Putlitzer Generationen ruhen, drängen sich eng und verschachtelt die Häuser sowie deren Nebengebäude mit den Nummern 1 bis 1o der Straße.
In der Verlängerung des Jungfernstieges, der mit der weltbekannten Hamburger Geschäfts- und Flanierstraße außer dem gleichen Namen sonst jedoch keine Vergleichs- oder Wertungsmöglichkeiten zuläßt, stehen direkt an der Stepenitz die Betriebsgebäude der Brauerei
Gebrüder Gerke; ein gesunder mittelständischer Gewerbebetrieb, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts vom Senior Fritz Gerke gegründet und später auf die Söhne Theodor und Fritz übertragen wurde. Putlitzer Bier, das „Burg-Bräu“, wurde nicht nur in Putlitz und der näheren Umgebung gern getrunken, sondern fand auch Liebhaber und feste Abnehmer im angrenzenden Mecklenburg, besonders im Parchimer Raum; es war eine beachtliche Konkurrenz zur Pritzwalker Brauerei Schraube.
Moderne Eismaschinen gab es in dem zeitgemäß eingerichteten Betrieb noch nicht, deshalb lieferten wintertags die zugefrorene Stepenitz und im Bedarfsfalle kleinere Tümpel genügend Natureis, das im geräumigen Keller eingelagert wurde. Überwiegend diente es für Kühlungszwecke der Brauerei, wurde an die Gastwirtschaften geliefert, aber auch die Putlitzer Haushalte konnten sich, besonders in Krankheitsfällen, Eis holen.
Beim sogenannten „Eisen“ gab es wintertags stets genügend Arbeitskräfte. Zum einen war es eine willkommene Abwechslung im täglichen Einerlei der Kleinstadt, zum anderen lockte aber auch das kostenlos und in beliebiger Menge ausgegebene „Warmbier“. Da kam es schon vor, daß Helfer, die häufiger ins Glas geschaut und an dem warmen Trunk Gefallen fanden, beim ungeschickten Hantieren auf der Eisfläche ein kühles Bad in der Stepenitz nahmen.
Die Gebäude der Volksschule gegenüber der Kirche und von der benachbarten Brauerei nur durch einen schmalen gepflasterten Gang getrennt, tragen die Hausnummern 1 und 2 der Königstraße. Sämtliche Schulklassen waren im Haupthaus untergebracht. In der Abgangsklasse der Schule hing an einer Wand lange Zeit eine große Bleistiftzeichnung „Reformator Martin Luther“, angefertigt von dem zeichnerisch begabten Schüler Rudolf Schumacher, der in den 9o-er Jahren des vorigen Jahrhunderts nach USA auswanderte und dort im Staate New-Jersey wohnte.
Das angeschlossene kleine Nebengebäude nahm die in den 2o-er Jahren eingerichteten „Gehobenen Klassen“ (mit Realschullehr-plan), beginnend mit den Jahrgängen 1908 und 19o9, auch Zunächst genügte für den neuen Schulzweig nur der vom Lehrerkonferenzzimmer durch einen Flur getrennte Raum, später kamen im Oberpfarrhaus zwei weitere Klassenzimmer hinzu. Den vorerwähnten Schulräumen schloß sich der Wohntrakt des Schuldieners an.
Der kleine, ständig laufende arthesische Brunnen vor diesem Hausteil ist mit dem frischen klaren Wasser, aus der Hand geschöpft, für jeden ehemaligen Schüler eine Jugenderinnerung an Zeiten, da „Coco-Cola“ und sonstige Erfrischungsgetränke unbekannte Genüsse waren und das dafür nötige Taschengeld nicht einmal als Wort für Kinder und Jugendliche existierte. Hausmeister (damals „Schuldiener“ bei gleichen Funktionen) war viele Jahre Herr Jacobs, ein engbrüstiger, asthmatisch blasser Mann, der so garnichts von einem gefürchteten Pedell mit respektablem Schnurrbart an sich hatte. Seine Ehefrau unterstützte ihn bei den vielseitigen Aufgaben, hier sei nur an die Reinigung und Instandhaltung sämtlicher Klassenräume und die aufwendige tägliche Heizung der zahlreichen Kachel- und eisernen Öfen in der kalten Jahreszeit gedacht.
Zur Familie Jacobs gehörten zwei Kinder: Sohn Walter, Behördenangestellter, nach seiner Heirat mit Helene („Lene“, ein lebenslustiges Mädchen), Tochter des Dachdeckermeisters Baethke aus der Wilhelmstraße, gegenüber dem Schumacherschen Stammhause, aus Putlitz verzogen und Tochter Herta.
Im Haus Nr. 3 an der Stepenitz neben der Waschbank, dort spülten Putlitzer Hausfrauen in dem damals noch klaren Flußwasser ihre Wäsche, wohnte Schuhmachermeister Ferdinand Berger mit Familie. Neben seinem Handwerksbetrieb führte der würdige alte Handwerker einen kleinen Handel mit Schulutensilien aller Art. Tochter Anni wurde die zweite Ehefrau des Stadtkämmerers Robert Jemann, nachdem seine Erstangetraute Elli, geborene Schumacher, verstorben war.
Die geschlossene Straßenzeile der Königstraße beginnt mit dem Haus Nr. 4. Ein kleines altes Wohngebäude mit wenigen Räumen gehörte der Witwe Seyer. Als Reinemachefrau, Wäscherin und Saalhilfe bei Putlitzer Vereinsvergnügen besserte sie die geringe Rente auf. Ihr Sohn Martin erlernte das Schuhmacherhandwerk. Kontaktarm, fand er unter gleichaltrigen Jugendgenossen wenig Anschluß und eines Tages hieß es in der Stadt: Martin Seyer ist zur französischen Fremdenlegion gegangen. Jahrelang war es still um ihn. Dann kehrte er, so wie er verschwunden war, ohne Aufhebens in seine Heimatstadt zurück. Fremdenlegionäre unterlagen bei Rückkehr strengen
ÜberwachungsOrdnungen wenn nicht gar Gerichtsstrafen, sofern sie sich dem Militärdienst des eigenen Landes entzogen hatten. Welche Folgen Martin zu tragen hatte ist nicht mehr bekannt. Später ging das Anwesen in den Besitz der kinderreichen Familie Kramer, auch „Wasserkramer“ genannt, über.
Das stattliche Nebenhaus Nr. 5 weist schon durch die Bezeichnung „Kantoratshaus“ die kirchliche Zweckbestimmung aus. Während die Parterreräume dem jeweiligen Kantor der Kirche als Wohnung dienen, ist der große Gemeindesaal im oberen Stockwerk für sonstige Veranstaltungen neben den Gottesdiensten vorgesehen.
Der Kantor: früher Studier, dann dessen Schwiegersohn Johannes Weyher, ihm folgte Willi Schulz und später Herbert Wiese, unterrichtete hauptberuflich an der Putlitzer Volksschule und leitete zugleich auch den Kirchenchor. Diese Aufgabe übernahm als erster Nichtlehrer zwischenzeitlich Stadtkämmerer Robert Jehmann, der in seiner Soldatenzeit einst Militärmusiker war.
Bürgerhaus Nr. 6 mit Ladengeschäft (Lampen usw.) und Werkstatt auf dem engen Hof gehörte dem Klempnermeister Gustav Triloff. Seine Witwe Flora, geb. Favre, deren unverheiratete Schwester Johanna zur Hausgemeinschaft zählte, führte nach dem Ableben ihres Ehemannes das Geschäft weiter.
Beide Damen stammten aus der alten Hugenottenfamilie Favre, die - wie auch die Fontanes - aus ihrer Heimat fliehen mußten und in Preußen aufgenommen wurden. Die Favres ließen sich schließlich in der Prignitz (Wittstock und Putlitz) nieder. Flora Triloff - deren Brüder Paul Favre, ursprünglich Maler, dann Direktor des Bankvereins Putlitz und Malermeister Emil Favre, beide in Putlitz, Bruder Max Favre in Berlin ansässig - übernahm als strenggläubige Protestantin die Leitung des „Vaterländischen Frauenvereins vom Roten Kreuz“. Die segensreiche Tätigkeit dieses Vereins unter Flora Triloffs ( „Tante Florchen11 ) energischer Leitung schuf in den Jah-ren des ersten Weltkrieges und danach viel Gutes, während Johanna stets im Schatten ihrer im öffentlichen sowie privaten Lebens so aktiven Schwester stand. Seit dem Tode beider Tanten wohnt in diesem Hause als neuer Eigentümer ihr Neffe Gustav Favre mit Frau Elli, Tochter des Dachdeckermeisters Willi Pagel, und Sohn Rolf Ekkehard. Gemeinsam betreibt die Familie ein Fotogeschäft; Vater und Sohn sind technisch überaus vielseitig begabte Menschen.
19o9 wurde der alte stumpfe Kirchturm mit einer schiefergedeckten spitzen Pyramide versehen. Die Turmspitze mußte 1971 erneuert werden. Die nicht ungefährliche Kletterpartie bis zur Spitze, von Gustav Favre fotografiert, unternahm der jugendliche Dachdecker Kahler.
In der alten Sonnenkugel waren folgende Notizen hinterlegt:
Diese Turmspitze mit Wetterfahne und Sonnenkugel habe ich angefertigt und aufgesetzt am 28.ten Oktober 19o9. Die große Kugel ist von dem alten Turm. Der Zimmerpolier Christian Haker aus Lütkendorf hat die Pyramide mit Spitze aufgerichtet. Möge der Turm zur Ehre Gottes stehen.
Gustav Triloff, Klempnermeister.
Jesus Christus gestern und heute und in alle Ewigkeit ! Ehre sei Gott in der Höhe !! Und Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen. Amen! Amen! Amen! Erleuchte uns Herr !
Flora Triloff geb. Favre.
Johanna Favre hatte sich wie folgt verewigt:
“Sursum corda. Die Herzen in die Höhe! Habemus ad Dominum, - Wir erheben sie zum Herrn!
Das Nachbargrundstück, Hausnummer 7, schmal und eng in der Häuserzeile, ist das sogenannte Bussesche Wohnhaus. In den 8o/9oer Jahren des vorigen Jahrhunderts waren eine zeitlang hier Glasers und Großmutter Schumacher, die sich im Hause durch einen unglücklichen Fall für ihr weiteres Leben eine Lähmung zuzog, mit ihrem jüngsten Sohn Rudolf, ansässig. Damals brach im Hause ein Brand aus, der jedoch eingedämmt werden konnte.
Zu welchem Zeitpunkt später der beim Kaufmann Korth beschäftigte Fuhrmann Heinrich- Gericke (er betrieb nebenher einen Bücklingshandel
und zog mit seinen Räucherfischen von Haus zu Haus) Mieter wurde, ist unbekannt ; seine Tochter Lene wohnte noch lange dort.
Im Bohn- und Geschäftshaus Nummer 8 bestand seit Ende des 19. Jahrhunderts ein Manufakturwarengeschäft. Gegründet vom Texti1kaufmann J. Warschauer, ging es später auf den Kaufmann Deter über. Nach dessem Tode übernahm Manufakturist Gustav Bastian, der die Witwe Deter ehelichte, Haus und Geschäft. Drei Töchter, davon Mimi aus erster Ehe, und Nelly sowie Ulrike gehörten zur Familie. Langjährige gute Stadt- und Landkundschaft sorgten für eine solide und gesunde Grundlage des Unternehmens. Besonders gefiel der länd-^ichen Käuferschaft ein in der Mitte des Ladenraumes eingebauter kleiner Springbrunnen.
Gustav Bastian, tüchtig in seinem Beruf, war allgemein für kauzige Redensarten bekannt; Kunden und Mitbürger hatten sich im Laufe der Zeit aber daran gewöhnt.
Ein kurzer enger Verbindungsweg zum Kirchplatz unterbricht die geschlossene Straßenzeile zum nächsten Grundstück.
Haus Nummer 9 erwarb Glasermeister Knaack vom Vorbesitzer Vick. Knaack war übrigens mit dem auf der gegenüberliegenden Straßenseite wohnenden Buchbinder gleichen Namens nicht verwandt. Im ersten Weltkrieg arbeitete in der Knaackschen Werkstatt Glaser uno Zink, der sich nebenberuflich als Fotograf betätigte und in Konkurrenz zum Oenickeschen Photoatelier in der Wilhelmstraße stand. Nächster Eigentümer war dann ein gewisser Kein mit einem Herrenwäschegeschäft; ihm folgte Kürschnermeister Erdmann. Schließlich übernahm Elektromeister Richard Kaiser, verheiratet mit einer Kolbow-Tochter aus Putlitz-Ausbau, das Grundstück und richtete hier sein Ladengeschäft ein.
Alte Putlitzer erinnern sich sicher noch der beiden Birnbäume, die früher vor dem Hause standen.
Das Nachbargrundstück, Haus Nummer 1o, ein stattliches Bürgerhaus mit großem Haustritt,wie bei mehreren Häusern der Straße, und Nebengebäude für Gewerbe und Landwirtschaft, gehörte dem Färbereibesitzer Erich Heyl, in kinderloser Ehe verheiratet mit der Tochter
des Brauereibesitzers Fritz Gerke sen. Der Färberei war ein Ladengeschäft mit Textilien, vorwiegend Wolle, Strümpfe, besonders jedoch blaues Leinen und ein reiches Sortiment Baumwollwebegarn angeschlossen. Nach Aufgabe der Färberei und des Ladengeschäftes blieb die außerdem betriebene Landwirtschaft alleinige Existenzgrundlage.
Die im Obergeschoß gelegene Wohnung gab Schwager Fritz Gerke auf, als im gegenüberliegenden Elternhaus nach dem Tode des Seniors Gerke entsprechende Räume für ihn und seine Frau frei wurden. Neuer Mieter im Hause Heyl wurde Stadtkämmerer Robert Jehmann.
en Heylschen Besitz erbte Erich Schulz, einziger Sohn des Kaufmanns Otto Schulz (Nette-Schulz) in der Friedrichstraße.
Mit Nummer 11 folgt das Mittelhäusersche Wohnhaus.
Vater Paul Mittelhäuser, vom Wüchse klein, aber in jeder Beziehung ein beweglicher, resoluter Mann, ernährte mit seiner Ehefrau in einem Putzgeschäft (Damenhüte usw.) die große Familie; im Laufe der Jahre hatten sich wohl acht Kinder eingestellt. Da mußte schon ein strenges Regiment die Kinderschar in Raison halten.
Mein Vater, der vor Erwerb des Hauses Königstraße Nr. 19, in einer durch Schränke abgeteilten Fläche des Putzmacherladens sein Frisörgeschäft eröffnet hatte, erzählte schmunzelnd, daß hin und wieder 3 Hutschachteln von den Schränken in seinen Ladenraum kollerten.
Wenn bei einer verabreichten Tracht Prügel der kleine Übeltäter aus der Mittelhäuserschen Kinderschar laut brüllte „Papa, das tut so weh“, dann begleitete das Familienoberhaupt die klatschenden Schläge auf das Hinterteil mit den Worten: „Das soll es auch!“
Im oberen Stockwerk wohnte Eisenbahner Fritz Wieczorek mit Familie. Wieczorek geriet im ersten Weltkrieg in russische Gefangenschaft und kehrte nach dem Kriege über Wladiwostock in seine Heimat zurück. Es war wohl der weiteste Rückweg aller ehemaligen Putlitzer Kriegsteilnehmer.
Königstraße Nr. 12, ein altes Bäckereigrundstück, war ursprünglich Eigentum des Bäckermeisters Jaenicke, wie sein Nachbar ebenfalls auf der linken Seite begrenzt durch die rückwärtigen Baulichkeiten des Hotels und rechts durch Stallungen sowie Lagerräume der Handlung. Das Kolonialwarengeschäft hatte Ausspannung für die Landkundschaft und gleichzeitig Schankerlaubnis,
Nun zu den Eigentumsverhältnissen.
Der „Putlitzer Hof“, nach dem früheren Eigentümer Schmidt (nicht mit dem Kaufmann Hermann Schmidt vom Nebenhaus verwandt) war als „Schmidts Hotel“ bekannt und viele Putlitzer blieben, wie oft üblich, auch lange nach dem Besitzerwechsel bei dieser alten Bezeichnung. Durch Verkauf, zunächst von einer Familie Mundt erworben, ging der Besitz dann auf den Gastronom Paul Schreck über. Nach dessen Tod führten seine Witwe, Sohn und Tochter, den Betrieb weiter.
In der Gastwirtschaft war früher die alte Posthalterei der Stadt untergebracht. Die Deutsche Reichspost zog später in den großen Gebäudekomplex auf dem zum Gut Burghof gehörenden Gelände um. Aber der alte ausgediente Postwagen blieb noch lange in einer Ecke des Wirtschaftshofes stehen.
Die Hotelzimmer wurden überwiegend von Geschäftsreisenden frequentiert. Vergnügungsreisende kamen nicht nach Putlitz und Verwandte oder Bekannte fanden durchweg in den Privathäusern Unterkunft.
Am Stammtisch im großen Gastraum neben der Theke tagten die Hono-rationen unserer kleinen Stadt; hier fielen bedächtige und kritisierende Worte über Wohl und Wehe des Städtchens, hier hielten sie ihre Skatabende ab. Zur Runde gehörten u.a. der Bankdirektor, die Brauereibesitzer, der dicke Tierarzt Eggert, der Apotheker und wer sonst noch dazu gerechnet wurde.
In der Gaststube spielte sich einst eine lustige Begebenheit ab, die Sache um „Unsichtbar Schmidt“. Da hatten sich einige Zecher einen Schabernack ausgedacht und als handelnde Person den Hausdiener, „ een Lütendörper Bloot, een bäten dösig aber good „ (er hieß auch Schmidt) ausersehen. Sie riefen ihn zu sich und verkündeten geheimnisvoll: Wenn Du ein bestimmtes Wort (und sie sagten ihm irgend ein beliebiges) aussprichst, dann wirst Du unsichtbar und kannst ungehindert und ungesehen alles nehmen, was auf dem Tisch steht oder liegt. - Probieren wir es doch gleich einmal. Schmidt sagt also das erwähnte Wort, nimmt dann das Glas eines Zechers, trinkt es aus und stellt‘s wieder hin. Dieser tut ganz verwundert: Nanu, das Glas war doch noch fast gefüllt und plötzlich ist es leer ? Das gleiche wiederholt sich. Dann verläßt der Hausgeist die Gaststube und denkt bei sich: Das geht ja gut, ich werde es bald erneut probieren. Tags darauf versucht er seine neue Kunst nun bei einem Gast. Doch für den ist „Unsichtbar“-Schmidt durchaus „sichtbar“ und er beginnt fürchterlich über die Frechheit des dienstbaren Geistes zu toben, der nun mit hängenden Ohren schnell davon eilt. - Wi künn dett angoahn ? Erst hätt‘ doch alles so schön klappt und nu ? — Seinen Namen „Unsichtbar-Schmidt“ behielt er aber.
Haus Nummer 14. Im Schmidtschen Kolonialwarenladen gab es so ziemlich alles für die Bedürfnisse der Stadtbewohner und des Landvolkes. An Markttagen ging mancher Korn, das Glas für 5 Pfennig, durch dieKehlen der Bauern, die bei Schmidt „ausgespannt“ hatten. Hermann Schmidt, zunächst mit einer geborenen Kieback aus Lütken-dorf verehelicht, Kinder: Liesbeth, Herta, Walter, der in Stalingrad blieb, und Fritz, ging nach dem Tode seiner Ehefrau eine neue Verbindung ein, aus der als Nachkömmling Sohn Hans stammt.
Ein sehr altes, einstöckiges Fachwerkhaus, Nr. 15, gehörte der Familie des Maurers Wilhelm Schmidt. Mit dem gleichnamigen Nachbarn bestanden jedoch keine verwandtschaftlichen Bindungen.
Nach dem Tode der Eheleute Schmidt heiratete die einzige Tochter Emma den Uhrmachermeister Wilhelm Imm, der im Hause sein Uhrmachergeschäft einrichtete. Wilhelm Imm, ein Altersgenosse meines Vaters, besuchte uns in seiner Junggesellenzeit hin und wieder. Tiefsinnig und grüblerisch wälzte er so manches Problem. Man sagte, daß er Emma Schmidt jahrelang insgeheim verehrt hätte. Der einzige Sohn ist im zweiten Weltkrieg gefallen oder vermißt.
Im oberen Stockwerk wohnte Nachtwächter Treumann mit -Frau und Sohn Otto, der bis zur Einberufung als Soldat im ersten Weltkrieg als Frisör im Geschäft meines Vaters tätig war. Er spielte nebenher recht flott und fleißig die Trompete. Die ältere Schwester war mit dem Maurer Emil Langhoff verheiratet.
Der alte Treumann. Er ging abends noch mit Stock, Hund und Laterne seine Runden, trug auch ein Horn bei sich, um bei Feuersgefahr Alarm zu tuten. In der Winterzeit oblag ihm zusätzlich die Aufgabe, die wenigen Straßenlaternen des Städtchens anzuzünden.
Agnes Thätner erzählte aus ihrer Jugendzeit: Wir Kinder warteten schon darauf, daß Nachtwächter Treumann die Leiter an den Laternenpfahl stellte und riefen im Chor: „Legt an l“ Wollte Treumann die Laterne anzünden, dann rief die Kinderschar: „Gebt Feuer!“ -Natürlich war der schon behäbige Stadtwächter verärgert und schimpfte. Aber wie sollte er dieser flinkläufigen Lästerschar beikommen !
Das anschließende Wohn- und Geschäftshaus, Nummer 16, gehörte der Familie Hamann. Nach dem Tode seiner Ehefrau ging Klempnermeister Hamann mit einer Frau Bohlmann aus Wittenberge die Zweitehe ein. Ihr in Wittenberge geborener Sohn Adolf zog mit nach Putlitz. Ebenfalls das Kleropnerhandwerk erlernt, übernahm Adolf Bohlmann den Handwerksbetrieb seines Stiefvaters. Neben dieser Werkstatt wurde ein Laden mit Haushaltsgegenständen usw. eingerichtet. Adolf Bohlmann war mit Leib und Seele Geräteturner, bekleidete im Männerturnverein Putlitz das Amt des Oberturnwartes. Seiner Ehe entsprossen Tochter Hanna, verheiratet mit dem Bankbeamten Oswald Höser, und Sohn Hans, der später Haus und Geschäft des Vaters übernahm. Er ehelichte Ruth Schmiedehaus, Tochter des Putlitzer Schornsteinfegermeisters Schmiedehaus, aus Pritzwalk stammend, dessen Familie zur Sippe des Dichters Theodor Fontäne gehört.
Nun folgt unter Hausnummer 17 das im Eigentum der Evangelischen Kirche zu Putlitz stehende, sogenannte „Superintendentenhaus“, ein stattliches Wohnhaus mit einer 5-Fensterfront im -oberen Stockwerk. Bis in die zwanziger Jahre bewohnte Superintendent Merke mit Frau und Tochter Karla dieses Haus. Eine mehrstufige große Steintreppe mit Geländer führte zur Haustür., Im Hochparterre diente ein Raum kirchlichen Bürozwecken.
Superintendent Merke, ein energischer, streitbarer Geistlicher, der nicht ausschließlich weltfremder Theologe, sondern, voll im Leben stehend, auch in der Administration der Kirche, insbesondere in finanzieller Hinsicht, ein „umsichtiger Kaufmann“ war, sein Hauptaugenmerk besonders auf die nutzbringende Verpachtung des umfangreichen Landbesitzes richtete, zu dem in vergangenen Zeiten überwiegend das Geschlecht derer zu Putlitz beigetragen hatte. Diese Adelsfamilie stellte auch jeweils den Patron der Kirche; bis 1945 hatte dieses Amt der auf Gut Philippshof bei Putlitz ansässige Baron Siegfried Gans Edler Herr zu Putlitz.
Superintendent Merke stammte aus dem Hannoverschen. Seine Gattin war die Tochter des in Hannover bekannten Kunstmalers Detmering. Sie erinnerte sich aus ihrer Jugendzeit, daß die jungen Damen des elterlichen Bekanntenkreises mit Interesse die jeweils in der Hannoverschen Lokalpresse erschienenen Plaudereien eines „Fritz von der Leine“ lasen. Unter diesem Pseudonym schrieb Hermann Löns damals oft kritisch und ironisch über Hannoversche Stadtbegebenheiten.
Mitte des ersten Weltkrieges war unsere Tante Alwine Bohnsack eine zeitlang als Haushaltshilfe im Pfarrhause. Eine Katholikin im evangelischen Pfarrhaus, in jener Zeit durchaus keine selbstverständliche Sache!
Nach der Pensionierung zog Familie Merke mit Tochter Karla nach Hannover. Die Superintendantur kam nach Pritzwalk, die zweite Pastorenstelle entfiel.
Amtsinhaber vor Merke war Superintendent Hesekiel. Dessen Sohn stand im Weltkrieg I als Leutnant und Batterieführer beim Perleberger Feldartillerie-Regiment 59 und war meines Vaters unmittelbarer Vorgesetzter in Frankreich.
Mit Hausnummer 18 setzt sich der Reigen schon sehr alter, einstöckiger Wohn-, Geschäfts- und Gewerbehäuser fort. Früher wurde hier eine Bäckerei betrieben. Drechsler Hermann Schulz, dessen Elternhaus in der Karstädterstraße stand, kaufte das Grundstück und richtete ein kleines Ladengeschäft mit Schulbedarf, Haushalts- und Geschenkartikeln ein; den Drechslerberuf übte er dann nicht mehr aus. Durch Ausbau des Seitenflügels wurde der Ladenraum wesentlich erweitert.
Hermann Schulz betätigte sich ehrenamtlich sehr im Dienst an der Allgemeinheit. Als Stadtverordneter und besonders im ersten Weltkrieg für sein unbestechliches Wirken bekannt, fand der Volks-mund für ihn auch bald die Bezeichnung „Hermann der Gerechte“. Zwei Töchter, Elisabeth und Helene, waren im Hause. Mutter Luise sorgte im Haus, Hof und Garten für das Wohl der Familie. Elisabeths Ehemann, Rudolf Glaser, trat als Teilhaber in das schwiegerelterliche Geschäft ein, das nun durch den jugendlichen Elan des gelernten Hamburger Vollkaufmanns einen beachtlichen Aufschwung nahm.
Aus der Ehe gingen drei Kinder - Hermann, jetziger Chef des Hauses, Elisabeth und Jürgen - hervor.
Helene heiratete den Kaufmann Hans Rehberg und verzog nach Malchow/ Mecklenburg.
Mein Elternhaus trägt die Nummer 19; in der“Chronik der Familie Schumacher“ ist es eingehend beschrieben.
Das Mitte des vergangenen Jahrhunderts erbaute Wohn- und Geschäftshaus steht an Stelle eines früher kleineren Gebäudes. Eigentümer des Anwesens war um 18oo ein Schuhmacher Johann Hoppe, wie die Inschrift an einem alten Balken in der Scheune am Jungfernstieg besagt.
Ab Mitte der sechziger Jahre wechselten nach den Grundbuchakten des früheren Pritzwalker Amtsgerichts die Eigentümer recht häufig. So sind verzeichnet: 1865 Kaufmann Bernhard Joseph Ostendorf»genannt Donnerberg, 1885 Rentner Joseph Grauert aus Ludwigslust, 1888 Buchhalter Wilhelm Stöffers, kurzfristig Uhrmacher Rudolph Voß, 31.1 o.1898 Kaufmann Oskar Lange (Kaufvertrag), 14.4.19o2 Schlossermeister Gustav Brandt, dann 28.5.19o2 der Vorschußverein zu Putlitz, eingetragene Genossenschaft mit beschränkter Haftung (später Bankverein Putlitz).
Vater kaufte das Grundstück von der Bank am 25. Oktober 19o6 und seit dieser Zeit ist es im Familienbesitz. Der häufige Eigentümerwechsel bis dahin mag dazu beigetragen haben, daß man in Putlitz diese Bürgerstelle das „Pangrotthuus“ (Bankrotthaus) nannte.
Großonkel Julius Schumacher, in den neunziger Jahren nach USA ausgewandert, erwähnte in einem Brief, daß er den früheren Eigentümer, einen Arzt namens Dr. Villain, gut gekannt habe. Da dieser Name in den Grundbuchakten nicht erscheint, wird Dr. Villain wohl nur Mieter gewesen sein.
In der Berichtszeit wohnte im Haus außer unserer Familie der aus Pritzwalk stammende Frisör Franz Funk, zunächst als Junggeselle, dann verehelicht mit Martha Otte aus Boddin (Ostprignitz). Dieser Ehe entsproß Tochter Anneliese. Als Vater sich entschloß, künftig nur als Dentist tätig zu sein, verkaufte er das Frisörgeschäft an Alfred May, von dem es Franz Funk erwarb. Weiterer Mieter war vorübergehend Vulkaniseur Paul Dröscher mit Ehefrau Lieschen. Dröscher, ein großer sportlicher, blonder Typ, selbst-bewußt und fortschrittlich eingestellt, hatte seinen Vulkanisierbetrieb in der Chausseestraße, damals ein ganz neuer Erwerbszweig.Bevor Putlitz allgemein ans elektrische Strom- und Lichtversorgungsnetz angeschlossen wurde, richtete Dröscher für den Häuserblock Nr. 13 bis 24 der Königstraße die erste elektrische Lichtanlage der Stadt ein. Die Betriebsstelle war in einem Stallraum auf dem Hof unseres Grundstückes etabliert. Fauchte die Maschine auch oftmals und setzte der Motor aus, so waren die Bewohner des angeschlossenen Blocks doch mit der neuen Lichtquelle sehr zufrieden, die Petroleum-, Spiritus- und Karbidlampen ablöste.
Die obere Wohnung hatte jahrelang die Lehrerfamilie Schaale inne. Nach dem Tode der Eltern und des Bruders Erich blieb die Tochter Hedwig Schaale wohnen, bis sie in die Friedrichstraße umzog.
Das Nachbargrundstück, Hausnummer 2o, gehörte dem früh verstorbenen Ackerbürger Rudolf Lüdtke. Seine Witwe und der Sohn Martin, noch in der Kaufmannslehre, verkauften ihren Besitz an Viehhändler Otto Schumacher, verheiratet in kinderloser Ehe mit Minna geborene Berger, einer Schulkameradin meines Vaters.
Nach Otto Schumachers Ableben veräußerte seine Witwe ‚das Anwesen an Karl Dürr, der aus Süddeutschland ;kam und Betti Bohnsack aus Mansfeld zur Frau nahm. Dürr ließ an und in dem alten Wohnhaus verschiedene Renovierungen ausführen.
Von Dürrs erwarb dann Fleischermeister Robert Schumacher aus der Friedrichstraße das Grundstück. Jetziger Eigentümer ist ein gewisser Jenatschke, verheiratet mit Inge Wittkopf vom Burghof.
Ein einstöckiger, sehr alter Gebäudekomplex, dem man schon damals die last der Jahre ansah, hatte zwar zwei Eigentümer, führte aber nur eine Hausnummer, die 21.
Im linken Hausteil wohnte Schuhmacher Fritz Schloß mit Ehefrau und Sohn Benno, der Kriminalbeamter wurde und mit seiner Frau Elsbeth, geborene Nette, älteste Tochter des Putlitzer Sparkassenleiters Hermann Nette, jetzt in einer westdeutschen Großstadt lebt. Schwiegervater Nette führte vor seiner Sparkassentätigkeit das Kolonial- und Haushaltswarengeschäft in der Friedrichstraße, nach der Übergabe an den Kaufmann Otto Schulz dann allgemein „Nette-Schulz“ genannt.
Im Erdgeschoß hatten früher die Eheleute Rumstieg, Frau Schloß Eltern, ihre Bleibe. Die betagten Leutchen erhielten 1915 von Bekannten neuartige rote Früchte, die eßbar sein sollten. Das Mißtrauen gegen diese unbekannten roten „Äpfel“ war jedoch so groß, daß man es nicht recht wagte, eine Kostprobe zu nehmen. Nun spielten wir Jungen aus der Königstraße zufällig vor dem Hause und Mutter Rumstieg erkor uns als Testpersonen. Natürlich reizte das Neue und Unbekannte; so bissen wir herzhaft in die roten Früchte. Den rechten Geschmack daran empfanden wir jedoch nicht. Es waren die ersten Tomaten, die wir in unserem Leben probierten. Rumstiegs konnten beruhigt feststellen, daß sie uns nichts Gefährliches gaben.
Bei Familie Schloß wohnte der AltJunggeselle Maler Otto Schutt, Bruder der Ehefrau Schloß. Wegen seiner akuraten, jedoch langsamen, bedächtigen und sorgsamen Arbeitsweise hieß er allgemein „Strichmann“.
Der anschließende Hausteil gehörte Familie Malzahn. Senior Wilhelm Malzahn betrieb ein Frisörgeschäft, das der älteste, bereits als Gehilfe tätige, Sohn tfilli einst übernehmen sollte. Ein tragisches Geschick zerschlug diesen Plan. Beim Hantieren mit einem Tesching auf der Promenade vor dem Malzahnschen Garten an der Stepenitz -unweit unseres Hausgartens - löste sich ein Schuß und traf den in einiger Entfernung vor dem Bahnübergang spielenden, etwa 1o jährigen Nachbarssohn,Willi Völcker tötlich. Das Ergebnis der Ge^-richtsverhandlung weiß ich nicht mehr. Der unglückliche Schütze verließ danach aber bald mit seiner jungen Ehefrau Berta, Tochter des Bäckermeisters Karl Lindemann aus der Wilhelmstraße, den Heimatort.
Tochter Grete Malzahn war jahrelang Beamtin beim Putlitzer Postamt; sie blieb ledig und starb nach 1945.
Hans, der jüngste Sproß der Malzahnschen Familie, wir nannten ihn nur „Hanne“, wurde Bäcker. Als hochmusikalisches Naturtalent war er im Kindesalter schon ein kleiner Violinvirtuose, der einmal gehörte Kompositionen aus dem Gedächtnis wiederholen konnte. Wo mag er abgeblieben sein ? Zuletzt sah ich Hanne am 17. Oktober 1931 beim Treffen auf dem Pranzes-Feld in Braunschweig als Staffelmann.
Nun ist das alte Doppelhaus verschwunden; ein neues Wohngebäude steht an seiner Stelle.
Das solide gebaute und gepflegte Wohn- und Geschäftshaus mit der Hausnummer 22 und dem Druckereibetrieb im Nebengebäude am Jungfern-stieg gehörte dem Buchdruckereibesitzer Emil Völcker. Zur Familie zählten außer der Ehefrau Lina geborene Schmidt, deren Mutter und die Söhne Erich, von Beruf ebenfalls Buchdrucker, und der auf so tragische Weise aus dem Leben geschiedene Willi, sowie Nachkömmling Heinz.
Im Erdgeschoß war neben der Wohnung, zu der die Räume des oberen Stockwerkes gehörten, auch der Laden für das Buch-, Papier- und Büroartikelgeschäft. Hier holten wir Kinder täglich die im Verlag Völcker erscheinende Ausgabe der „Putlitzer Nachrichten“, unser Heimatblatt, ab und studierten auf dem kurzen Heimweg schnell die am meisten interessierende Spalte „Lokales und Provinzielles“.
Emil Völcker, versierter Fachmann, kam aus dem ersten Weltkrieg, schwerverwundet durch einen Bauchschuß, zurück. Im öffentlichen Leben unserer kleinen Stadt wirkte er jahrelang als Vorsitzender des Männer-Turnvereins von 1860. In der Schlußphase des letzten Krieges mußte Völcker die stellvertretende Führung der NSDAP-Orts-gruppe übernehmen. Oranienburg war die Endstation seines Lebens.
Ob hier das Schicksal gerecht verfuhr ? Viele Bürger der Stadt, die ihn, seinen Weg und sein Handeln kannten und beurteilen können, bezweifeln es.
Hausnummer 23. Seit Generationen ist dieses Grundstück im Eigentum der Familie Ganzel. Wann das alte einstöckige Haus einem Neubau weichen mußte oder erheblich um- und im Dachgeschoß teilweise ausgebaut wurde, ist nicht mehr bekannt. Ganzels betrieben seit alters-her eine Bäckerei, später als Konditorei nebst Cafe umgestellt. Dem alten Bäckermeister Carl Ganzel folgte Sohn Adolf, der den Betrieb auf seinen Nachkömmling Adolf übertrug. Dessen Brüder Carl und Oskar, Letzterer als Uhrmacher -in Berlin tätig, gingen aus dem Haus. Adolf junv führte in kinderloser Ehe mit seiner Frau das Cafe weiter. Nach ihrem Ableben gingen Haus und Cafe in andere Hände über.
In meiner Kinderzeit waren die Ganzel‘sehen „Baisser“, das Stück für 1o Pfennig, sehr begehrte Leckerbissen.
Der Putlitzer Heimatdichter Gräbcke, Lehrer an der Volksschule meiner Heimatstadt, hat den alten Karl Ganzel literarisch in seinen „ Prignitzer Kamellen un Hunnblöhmer „ verewigt.
„ Wo Korl Ganzel in een Minut dreemoal Prügel kreeg!“
In Potlitz föhrt vör‘d Schoolhusdöör,
eenmoal een Äselsfuhrwerk vor.
Poor Schooljungs güngn an‘n Äsel ran
un füngn em to necken an.
Doch äs de Äsel hin“n schlöög ut,
da kneepn all de Bengels ut.
De Kutscher, de leep hinnerdrin,
hoalt aber keenen davon in.-
Korl Ganzel bleew bi‘n Woagn stoahn, weil he denn Langohr nix haar doan. De Kutscher awer in sien Boos, leep up denn lütten Jungen los un haut em: rietsch-ratsch-ritsch, dree övern Puckel mit de Pietsch. Tööw Bengel, reep he, daran ruuk. Nu kneep Korl Ganzel höllisch ut un leep denn Kanter gägn denn Buuk, de groad keem ut sin Woahnstuv rut. De Kanter awers goarnich fuul, de haut denn Bengel gägn ‚d Muul. Da huult de Jung so dull he künn un leep in sine Schoolstuv rin.
Hier wöör de Paster Dienemann,
de keek den Jungn mitleidig an un sägt:
Was ist dir, lieber Sohn,
Was tat man dir heut morgen schon ?
De Kanter, reep he, hatt mi sloan, Ick häw denn Äsel goarnix doan! Da aber, oh, watt güng dett fix, kreeg he turn drittenmoal sin Wix !
Das vormals Offenhausensche Eckgrundstück, Hausnummer 24, ein für Putlitzer Verhältnisse breites und geräumiges Wohn- und Geschäftshaus, ging nach der Jahrhundertwende durch Kauf an den aus der Altmark stammenden Texti1kaufmann Pritz Eisenhart über, der die Tochter des Schuhmachermeisters Wilhelm Breuel aus der Priedrichstraße ehelichte und ein Manufakturwarengeschäft eröffnete.
Die Eisenhartschen Kinder blieben nicht in Putlitz. Der ältere Sohn Pritz ging.beruflich nach Pommern, Otto verstarb in jungen Jahren und die mit einem Tierarzt verheiratete Tochter Maria verzog nach Meyenburg. Später gab Eisenhart das Textilgeschäft auf und richtete einen Schuhladen ein.
Vor 1914 wohnte Pamilie Pritz Glaser im oberen Stockwerk zur Miete. Eine breite Holztreppe führte zu den oberen Räumen, die später außer der Gemeindeschwester Auguste Wieser auch die Familien Hecht - Sohn Paul heiratete meine Schwester Liselotte -, sowie Pagel mit Töchtern Liesbeth und Dora übernahmen.
Das alte Haus war doch recht baufällig und wich vor einigen Jahren einem zweistöckigen Neubau mit Wohnungen für mehrere Familien.
Zwischen dem Eisenhartschen Haus und der „Alten Post“ führt ein kurzer Verbindungsweg von der Königstraße zum Jungfernstieg, der dann parallel zur Hauptstraße bis zur Kirche führt.
Eine alte kolorierte Ansichtskarte, es dürfte sich um eine photo-grafische Aufnahme um die Jahrhundertwende handeln, zeigt den oberen Abschnitt der Königstraße aus Sicht der Straßenmitte zwischen den Häusern Nummer 24 und 25.
Rechts, vor der Offenhausenschen Haustür, sieht man noch den großen Birnbaum, wie übrigens solche Obstbäume in den Putlitzer Straßen häufig anzutreffen waren. Im Eingang zum Nachtbargrundstück steht mit seiner Ehefrau der alte weißbärtige Bäckermeister Adolf Ganzel. Zwischen den Häusern Nummer 28 und 29 bemerkt man eine der wenigen Straßenlaternen und unweit davon steht am Rand des Bürgersteiges bei den Häusern Müller und Schumann die frühere Straßenpumpe.
Baum, Laterne und Pumpe sind längst verschwunden. Im großen und ganzen veränderte sich das Straßenbild aber kaum.
Die „Alte Post“ auf; dem zum Gut Burghof gehörenden Areal mit diem „Schloß“, mehr größere Villa, bis 1945 Wohnstätte des Gutsbesitzers Gebhard zu Putlitz-Burghof und seiner Familie - vorher lebte hier zurückgezogen die schriftstellerisch tätige Baroneß Elli zu Putlitz • diente nach dem Umzug der Post in den Neubau Friedrichstraße ausschließlich Wohnzwecken.
Wachtmeister Krause, ein gar gestrenger und besonders beim fahrenden Volk weit und breit gefürchtet, - Zigeuner wurden von ihm bereits am Weichbild der Stadt in Empfang genommen, sodann mit Wagen, Sack und Pack im Geschwindemarsch durch den Ort bis zur nächsten Landstraße geführt -, bewohnte mit seiner Familie die Parterreräume. Außerdem hatten im geräumigen Haus Witwe Köhler mit zwei Töchtern - die jüngere heiratete später den Elektromeister Max Weinhardt -und Sohn August (Auti), der im zweiten Weltkrieg als U-Bootfahrer den Heldentod erlitt, wie auch der bei der Qerkeschen Brauerei beschäftigte Braumeister Ziechmann mit Tochter Anni ihre Bleibe.
Das kleinere Nebengebäude war stets für die Förster des Gutes bestimmt. Nach Förster Koch, der mit Frau und beiden Söhnen ins Holsteinische verzog, übernahm Försterfamilie Pegelow die Wohnung.
Das alte Postgebäude ist nicht mehr, es wurde abgerissen.
Die gegenüberliegende Seite der Königstraße beginnt mit der Hausnummer 25.
Dieses niedrige alte Fachwerkhaus mußte einem an das große Höpckesche Wohn- und Geschäftshaus in der Friedrichstraße angegliederten Neubau weichen.
Der Altbau stand im Eigentum der Schneiderfamilie Wöhlert. Neben einem überwiegend im Elternhaus lebenden Sohn gehörten . zwei Töchter zur Familie. Während die ältere Tochter den Kunstmaler Straatmann heiratete und nach Düsseldorf verzog, blieb die jüngere Tochter Frieda noch jahrelang als Hebamme in Putlitz.
Die Mietwohnung hatten Reckmanns, früher im Seilerschen Haus wohnhaft, inne. Senior Ferdinand war von Beruf Schneider, ebenso sein verheirateter Sohn Ulrich (Ulli).
Über den früheren Eigentümer Jahnke des Wohnhauses mit Laden im Erdgeschoß, Hausnummer 26, man nannte ihn „Proppenjahnke“, ist nichts mehr bekannt. Wahrscheinlich hatte er einen kleinen Handel und führte als Spezialität besonders Korken in seinem Angebot. Und zu Korken sagt man in Putlitz auch „Proppen“.
Nach dem ersten Weltkrieg übernahm Drogist Martin Grabow das Haus und richtete eine Drogerie mit Farben- und Lackhandel ein. Grabow, Weltkriegsoffizier, energisch und tüchtig, war Mitbegründer und Vorsitzender des Putlitzer Sportvereins und selbst aktiver Fußballer. Aus seiner Ehe mit einer Hansen-Tochter aus Pritzwalk, Nichte des Gärtnereibesitzers Adolf Hansen in der Friedrichstraße, ging Tochter Rosemarie hervor. Haus und Geschäft erwarb dann Apotheker Hugo Duderstädt, der mit Frau und Tochter Sonja von auswärts zuzog. Die Drogerie führte die Bezeichnung „Zum goldenen Stern“.
Das stattliche Nachbarhaus, Nummer 27, gehörte der unverehelichten Linchen Ebert, zur Berichtszeit schon im gesetzten Alter.
Im Erdgeschoß bestand schon seit vielen Jahren eine Filiale von „Kaisers Kaffeegeschäft oder Thams & Garfs“. In den 3oer Jahren war Ladeninhaber Kaufmann Bremer; er bewohnte mit seiner Ehefrau die übrigen Räume. Frau Grete, Tochter des Stadtförsters Laege, muß eine sparsame Hausfrau gewesen sein, denn unsere Mutter meinte: Sie kann aus Wasser und Nichts eine Suppe kochen !!
Der Chronist kann sich noch gut erinnern, als bei Kriegsbeginn 1914 der zu den Fahnen einberufene Geschäftsführer von den Stufen des Ladeneingangs Süßigkeiten und sonstige Leckereien unter die zahlreiche Kinderschar warf. Wir balgten uns um die Köstlichkeiten!
Langjähriger Mieter der Wohnung im ersten Stock war die Lehrerfamilie Wiese.
Konrektor der Volksschule und KirchenOrganist Rudolf Wiese, -die Schuljugend und auch ältere Jahrgänge noch, denn jahrzehntelang hatte er den Putlitzern Wissen und Bildung vermittelt, nannten ihn meist „Fritzer Wiese“, obwohl niemand, sagen konnte, wie der Name einst entstand, - verstarb in den 9oer Jahren seines Lebens. Ehefrau Wiese, eine ruhige und stille Dame, trat im öffentlichen Leben kaum in Erscheinung.
Während der ältere Sohn Walter anstelle der abgebrochenen Lehrerausbildung an der Präparandenanstalt Neuruppin dann beim Bankverein Putlitz eine andere Berufsausbildung absolvierte und danach auswärts eine kaufmännische Position übernahm, würde der jüngere Herbert nach seiner Ausbildung Lehrer an der Volksschule seiner Heimatstadt und, wie sein Vater, Organist an der Kirche.
Haus Nr. 28, als Wohn- und Geschäftshaus erbaut, gehörte dem Schlachtermeister Kolpin. Der Laden im Erdgeschoß, pieksauber wie auch die eigene Schlachterei und Wurstfabrik auf dem Hofräum, war das führende Geschäft im Ort.
Als Kinder hatten wir vor dem oft bärbeißig dreinschauenden großen und massigen Meister schon gehörigen Respekt; dabei war er ein gutmütiger Mensch, der Kinder gern hatte. Besonders hart traf ihn der Verlust seines einzigen Sohnes, der in jungen Jahren verstarb und das Geschäft einst übernehmen sollte. Familie Kolpin bewohnte das Haus allein. Mutter Kolpin, aus der näheren Umgebung von Putlitz stammend, ist mir nicht mehr in Erinnerung, wohl aber die beiden Töchter. Liesbeth, die ältere, half im Geschäft und heiratete später den Schlachtermeister Martin Westphal, während die jüngere, Meta, schon frühzeitig Putlitz verließ.
Das alte Kolpinsche Haus und auch das Nachbarhaus Nr. 29 wurden vor dem ersten Weltkrieg durch Feuerschaden schwer beschädigt und kurz darauf durch stattliche Neubauten ersetzt.
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„ 1914 „ steht am Giebel des Hauses Nr. 29. Bauherr dieses Hauses war der künftige Eigentümer, Sattlermeister Franz Rieck, der das Grundstück vom Musikdirektor Emil Meißner erworben hatte.
Meißner leitete und dirigierte die Putlitzer Stadtkapelle, die man in die Gruppe der“Stadtpfeifer“, wie man sie früher nannte, einordnen muß. War es auch nur ein kleineres Ensemble, an das in musikalischer Hinsicht nicht allzu große Anforderungen gestellt werden konnten, so genügten die Leistungen vollauf für den nicht verwöhnten Geschmack der Menschen unserer Kleinstadt und der umliegenden Dörfer,
Nach dem Grundstücksverkauf an Rieck bezog Familie Meißner ihr
neuerbautes Einfamilienhaus in der Perleberger Straße.
Nach dem Tode des Familienoberhauptes veräußerten die Meißnerschen Erben das Grundstück an den Steinmetzmeister Breitkreuz, von dem es später dessen Berufskollege Genz erwarb.
Witwe Meißner und Sohn Reinhard verließen Putlitz und fanden in Lüneburg eine neue Heimat. Reinhard wurde als Musiker noch vom Vater ausgebildet. Er ging als Militärmusiker zur Wehrmacht und kehrte nach Krieg sowie Gefangenschaft nach Lüneburg zurück.
Sattlermeister Rieck hatte neben seiner Werkstatt im Hause ein Ladengeschäft mit Lederwaren, insbesondere Sättel, Zaumzeuge und einschlägige Artikel. Sohn Otto erlernte den väterlichen Beruf und übernahm nach dem Tode des Familienoberhauptes das Geschäft. Er heiratete eine Thiede-Tochter, deren Eltern später mit im Hause wohnten. Otto kehrte aus Stalingrad nicht zurück. Die einzige Tochter ging 1945 in die USA.
Mieter im Hause waren eine aus Mecklenburg zugezogene Familie David Dunze und eine Eisenbahnerfamilie Motte, während im Dach-geschoß die Kriegerwitwe Pauline Ziems mit mehreren Kindern wohnte.
Eigentümer des schmalen Hauses Nr. 3o war früher ein älterer Schuster Eilke, von dem das Grundstück dann an Maurer Schulz überging. Dessen Ehefrau hatte den Milchverkauf übernommen und fuhr täglich mit dem pferdebespannten kleinen Wagen durch die Stadt, oft unterstützt von ihrem Mann. Bimmelte die Glocke des Gefährts, dann stellten sich die Kunden ein und mit der Milch fanden Stadtneuigkeiten gleichzeitig schnell ihre Abnehmer. Das Anwesen wurde an den kleinen, quicklebendigen Malermeister
Richard Genz weiterverkauft, der mit seiner Familie einzog.
Die Kinder Ulla und Achim wuchsen hier auf.
Eng, als müßten sie sich gegenseitig stützen und Halt geben, sind die Häuser Nummer 3o und 31 verbunden; sie dürften auch die gleiche erkleckliche Anzahl von Jahren auf dem Buckel haben.
Schneidermeister Theodor Müller gehörte das Anwesen Haus Nr. 31. Nur wenige Putlitzer können sich noch des alten würdigen Herrn mit dem schlohweißen langen Bart erinnern, der besonders bei den kirchlichen Trauungen so harmonisch in den feierlichen Rahmen paßte. Meine Mutter erwähnte es oft, wenn sie von ihrer eigenen Hochzeit sprach.
Der Müllerschen Ehe entsprossen zwei Kinder. Sohn Fritz wurde Postbeamter und blieb auch nach seiner Eheschließung zunächst im Hause, bis er im Ort eine andere Wohnung fand. Die Tochter heiratete den Uhrmacher Georg Lewin, der nach dem Tode des Schwiegervaters seinen Uhrmacherladen von der Wilhelmstraße in das Elternhaus seiner Ehefrau verlegte. Lewins übernahmen auch die Wohnung im oberen Stock, als der bisherige Mieter, Postbeamter Barnikow, mit Familie auszog. Aus der Lewinschen Ehe gingen Paula und Theo hervor.
Die anschließende Bürgerstelle Nummer 32 der Häuserzeile, gehörte früher dem Schuhmachermeister Schumann, der im Erdgeschoß neben der Werkstatt einen Schuhladen unterhielt. Drei Kinder kamen aus der Schumannschen Ehe, und zwar die Ehefrau des Kaufmanns Schramm, Sohn Martin, Malermeister von Beruf und Frau Baumann.
Nach dem ersten Weltkrieg kaufte Schlossermeister Martin Bormann, verehelicht mit einer Gabelstochter aus der Karstädterstraße, das Grundstück. Martin Bormann, aus Springe stammend, von kräftiger gesetzter Statur, war alter Seefahrer und Weltkriegsteilnehmer auf SMS „Charlotte“. So wurde seine älteste Tochter auch auf diesen Schiffsnamen getauft; ihr folgten Kurt und Ilse.
Neben der Schlosserwerkstatt und dem Ladengeschäft mit einschlägigen Artikeln und Haushaltsgegenständen gliederte der rührige Geschäftsmann seinem Betrieb bei der ständig wachsenden Motorisierung eine Vulkanisiereinrichtung an.
Die oberen Räume des Wohnhauses hatte der selbständige Lackierer Hubert Friese gemietet.
Unter Hausnummer 33 folgt das Voßsche Grundstück, ein breites Wohn- und Geschäftshaus mit Laden und Wohnung des Hauseigentümers im Parterre, oberem Stockwerk und teilweise ausgebautem Dachgeschoß sowie der geräumigen Tischlerwerkstatt mit Unterkunft für die Gesellen im rückwärtigen Gebäudeteil. Langjähriger Mieter im oberen Stockwerk war die Familie des Zimmermanns Karl Subert. Tochter Erna, aus deren Ehe Gunda, Hermann Glasers Frau stammt, und Sohn Ernst, gefallen im zweiten Weltkrieg, waren unsere Spielgefährten.
Die zweite Wohnung belegte Frau Berta Krug, Tochter des Hauses und Witwe eines im ersten Weltkrieg gebliebenen Marineangehörigen. Eine selbstbewußte ältere Dame, deren Schlagfertigkeit ein Erbteil von väterlicher Seite gewesen sein dürfte.
Doch nun zum Hausherrn selbst, der eine geborene Froböse zur Frau hatte. Tischlermeister Ferdinand Voß, aus einer alten Putlitzer Familie kommend, war ein Putlitzer Original. Ein großer stämmiger Mann, Prototyp des selbstbewußten, in sich ruhenden Handwerksmeisters, war ein Bürger, der kritisch Menschen, kommunale und auch kirchliche Stellen unter die scharfe Lupe nahm. Seine unverblümten und geraden Meinungen, die er ohne Hemmungen deutlich von sich gab, waren stadtbekannt. Nur zwei Beispiele sollen angeführt sein.
Selten zufrieden mit den Ratsherren der Stadt,stammt von ihm das Wort: Was wir brauchen sind Stadtverordnete mit offenem Kopf, nicht mit nem „Oapenkopp“. Und zum anderen hatte er oft ein Hühnchen mit dem Herrn Superintendenten von gegenüber zu rupfen, wenn dieser über störende Sonntagsruhe durch Bauern klagte, die Möbel und sonstige Einrichtungen abholten. (Was Ferdinand Voß aber niemals abstellte.)
Übrigens lebten noch zwei Brüder in der Stadt. Das Dreigestirn nannte man: „Holtvoß“ (Tischler Ferdinand), „Goldvoß“ (Uhrmacher Rudolph Voß) und „Lärrer (Leder)-Voß“ (Sattler August Voß).
Sohn Martin übernahm vom Vater den Tischlereibetrieb mit Möbelhandlung. Verheiratet mit einer geborenen Muhs, veranlaßte diese Kopulation unseren Vater zu dem Wort: Da hätt een Voß sich eene Muhs gräpen! - Aus dieser Ehe ging Egon, der jetzige Inhaber und Eigentümer hervor. Weder er noch sein Vater erreichten das Fo‘rmat
des Seniors.
Das letzte Grundstück dieses Häuserblocks trägt die Nummer 34, ein repräsentantes Eckhaus am Marktplatz. Im Erdgeschoß der große Ladenraum des Schrammschen Manufakturwarengeschäftes, vormals Scheel Textilien, wie es die Inschrift auf einer alten Fotografie des Hauses besagt. Hermann Schramm, beweglich und energisch, gehörte zum Aufsichtsrat des Putlitzer Bankvereins. Er erreichte bei seinem plötzlichen Ableben kein hohes Alter. Das Geschäft wurde von seiner Witwe und dem Sohn Fritz weitergeführt. Fritz war im Weltkrieg II zu einem Maschinengewehrbataillon eingezogen; er kehrte aus Stalingrad nicht zurück. Tochter Dora verließ nach ihrer Eheschließung die Heimat und wohnt jetzt im Westen der Bundesrepublik. Die meisten Schrammschen Privaträume lagen im oberen Stockwerk. Im ausgebauten Dachgeschoß wohnte das Maurerehepaar Emil Langhof, wintertags ein vielbeschäftigter Hausschlachter. Ehefrau Marie, Tochter des alten Nachtwächters Treumann,war mit ihrem Mann stolz auf Tochter Klara ( „uns Klärchen“ ), ein dunkler attraktiver Typ; nach Berliner Jahren kehrte sie in ihre Heimatstadt zurück.
An Schramms Ecke stand die alte holzverkleidete Wasserpumpe mit dem großen Schwengel, wintertags mit schützender Strohhülle umgeben. Sie ist nicht mehr. Schade, denn das aus der Tiefe geholte Wasser nahmen die Hausfrauen in der Nachbarschaft besonders gern zum Kaffeekochen.
Wir sind am Marktplatz der Stadt mit dem alten, aus der Häuserfront der Straße zurückgesetzten Fachwerkrathaus, Haus Nr. 35. Rechts vom Eingang liegen die Büroräume der Verwaltung; gegenüber, durch einen breiten Flur getrennt, sind Kämmereikasse und die früher selbständige Stadtsparkasse, heute nur noch Nebenstelle der Kreissparkasse Pritzwalk, untergebracht.
Im oberen Stockwerk dient neben der Wohnung des Bürgermeisters ein kleinerer Saal als Sitzungszimmer für die Stadtväter. Angeblich wurde hier das alte Richtschwert aufbewahrt, das im Trubel der wilden Maitage des Jahres 1945 verschwand. Aus eigener Kenntnis weiß ich es nicht, nur soviel: Putlitz hatte durch das Adelsgeschlecht in früheren Zeiten die Gerichtshoheit über Leben und Tod.
Vor dem Rathaus errichteten die „dankbaren Putlitzer“, wie es. in der Tafelinschrift hieß, Ende des vorigen Jahrhunderts ihrem alten Kaiser Wilhelm I. ein ehernes Denkmal in Lebensgröße. In einer Maiennacht 1945 verschwand das Monument vom Sockel; einzelne Metallreste und der unversehrte Kaiserkopf ruhen im rückwärtigen Teil unseres Gartengrundstücks vor dem Mühlenwehr an der Stepenitz.
Die alte Eiche nimmt beherrschend die Platzmitte des Marktes ein. 1814 nach dem siegreichen Peldzug gegen Napoleon gepflanzt, überstand sie bisher alle Stürme der vergangenen 17o Jahre und wird hoffentlich noch recht lange ein Wahrzeichen der Stadt bleiben.
Bürgermeister Otto Hinze, dann Kommerzienrat Dr.h.c.Hermann Berger, nach 1945 für einen nicht sehr langen Zeitraum wieder Hinze, waren zur Berichtszeit die StadtOberhäupter. Zwei grundverschiedene Charaktere. Hinze (in der Bevölkerung auch „Kräcker“ genannt), aus dem nahen Steffenshagen stammend, verkörperte den alten Beamtentyp und verließ nie die eingefahrenen Verwaltungsgleise, wogegen Dr.Berger als ehemaliger Direktor bei dem Großunternehmen Becker-Stahl im Ruhrgebiet weltoffen den modernen und großzügigen Entwicklungen positiv gegenüberstand und für die Stadt manche anerkennenswerte Neuerung schuf; er verstarb plötzlich kurz vor dem Kriegsende.
Der zweite Häuserblock beginnt an der nächsten Straßenecke des Marktes unter Nr. 36 mit dem großen alten Fachwerkhaus der „Privilegierten königl. preuß. Löwen-Apotheke“. In der alten Officin mit den Tiegeln und Töpfen herrschte viele Jahre der in kinderloser Ehe verheiratete Apotheker Johannes Draeger. Typ des alten schwarz-rot-goldenen Burschenschaftlers 1848er Prägung und überzeugter Demokrat: so kann man ihn bezeichnen. Im öffentlichen Leben der Stadt kaum hervortretend, wird er älteren Einwohnern als Kapuziner (Schiller, „Wallensteins Lager“, Achter Auftritt) in einer für die kleinstädtischen Verhältnisse beachtlichen Aufführung des „Lagers“ durch Mitglieder des Männer-Turn-Vereins unvergessen sein.
Die Brauereifamilie Gerke bewohnte das stattliche Bürgerhaus Nr. 37 allein. Zunächst war bei Lebzeiten- des Seniors hi,er nur der ältere Sohn Theo mit seiner Frau, einer geborenen Pirow, ansässig. Später zog auch Sohn Fritz mit Ehefrau in das Elternhaus. Da beide Brüder kinderlos ;blieben, sollte der Gerkesche Besitz einmal ein jüngerer Angehöriger der Familie Pirow, aus deren Reihen ein früherer Südafrikanischer Minister hervorging, erben.
Nr. 38, ein solides Bürgerhaus, gehörte dem Malermeister Martin Schumann aus der Familie Schumann in der Königstraße 32. Neben der Malerwerkstatt bestand ein Ladengeschäft mit Tapeten und einschlägigem Material. Schumanns wohnten im Erdgeschoß, während die Räume im oberen Stock dem Schwager Franz Baumann, Geschäftsführer der Viehhandelsgenossenschaft Putlitz, überlassen wurden. Baumanns Sohn Franz ist Altersgenosse meines Bruders. Später übernahm die Wohnung der bei der Brauerei Gerke beschäftigte Braumeister Laschinger mit Familie.
Es folgt unter Hausnummer 39 das Korthsche Grundstück mit dem großen einstöckigen Wohn- und Geschäftshaus und den Stallungen sowie Lagerräumen des geräumigen Hofes, durchgehend bis zur Wilhelmstraße. Neben der Gemischtwarenhandlung - der Laden nahm den größeren Teil des Erdgeschosses ein - wurde eine Landwirtschaft betrieben.
Mutter Korth hatte sich auf das Altenteil zurückgezogen. Um die kaufmännischen Belange kümmerte sich als Chef des Hauses der älteste Sohn Gustav, verheiratet, 2 Töchter, während Ernst, der ledig blieb und zu den Stillen im Lande gehörte, ausschließlich die Ländereien versorgte. Ernst war ein guter Schlittschuhläufer. Wir Jungen bewunderten seine eleganten „Holländerbogen“, die er mit seinem Altersgenossen Walter Wiese auf der Stepenitz vor dem Mühlentor lief. Und die vernickelten Schlittschuhe mit im Halbbogen auslaufenden Kufen waren - und sie blieben es auch ein Wunschtraum unserer Kinderjähre, besaßen wir doch nur die einfachen Ausführungen, die „Hackenabreißer“.
Der Zweitälteste Sohn der Familie Korth, Werner, kehrte aus englischer Gefangenschaft im ersten Weltkrieg in die Heimat zurück und eröffnete in der Friedrichstraße eine Drogerie mit Tankstelle. Er nahm eine Möhlmannstochter zur Frau; aus dieser Ehe ging ein Sohn hervor. Die Eltern Möhlmann hatten ein Schuhgeschäft in derselben Straße.
Frau Elli Baumann, verwitwete Mann, geborene Schumann, aus dem Hause Königstraße 32, verkaufte ihre Bürgerstelle, Haus Nummer 4o, an den Uhrmachermeister Carl Schulz („Carl-Uhr“), der Laden und Werkstatt in dem einstöckigen Wohnhaus einrichtete und die übrigen Räume des Erdgeschosses als Wohnung nahm. Oben wohnte Eisenbahner Otto Fritz mit Frau und Tochter Anna.
Carl Schulz heiratete nach dem Tode seiner Frau in zweiter Ehe die Nachbarstochter Friedel Favre. Aus dieser Ehe ging Sohn Carl Heinz hervor, der das väterliche Geschäft weiterführt.
Das alte einstöckige Wohnhaus, Nummer 4o der Straßenzeile, es ist inzwischen auch der Spitzhacke zum Opfer gefallen, gehörte ursprünglich dem Buchbinder J.F. Knaack, Mitbegründer und erster Direktor des früheren Vorschuß-, späteren Bankvereins, Putlitz.
Seine Tochter heiratete den Malermeister Emil Favre, nach dessen Tod zog sie mit ihren Kindern Friedel, Waltraud und Gustav in die beengten Wohnräume des Elternhauses zurück. Friedel und Gustav blieben in Putlitz. Waltraud heiratete nach Weimar.
Mutter Favre war Schneiderin und gab in den Wintermonaten, wie es früher üblich war, jungen Mädchen aus den Dörfern den obligaten Nähunterricht.
Die Wohnungen im Erdgeschoß teilte sich der neue Hauseigentümer Glaserroeister Paul Lenth („Opulente“)» kinderlos verheiratet, mit Familie Favre, während im oberen Stock Witwe Bertha Rieck und eine Familie Malzahn ihre Unterkunft hatten.
Soweit mir erinnerlich, befand sich die Lenthsche Werkstatt aus Platzmangel im Hause der Witwe Anna Oenicke, Wagestraße/Ecke Wilhelmstraße.
Auch das nächste Wohnhaus, Nummer 42, mit kleinem Laden und Werkstatt, kann ein langes Lebensalter aufweisen. Es gehörte einst dem Schuhmacher Karl Stiegert, der mit seiner großen Familie das Haus allein bewohnte.
Der älteste Sohn war im ersten Weltkrieg Flieger. Er kehrte zwar aus dem Felde zurück, verstarb aber bald darauf. An seiner Beerdigung auf dem Putlitzer Friedhof nahmen ehemalige Fliegerkameraden teil. Der jüngste Sohn Fritz - wir nannten ihn „Pucki“ - war ein kleiner drahtiger und furchtloser Draufgänger, Typ „Fallschirmjäger“ Stiegerts sind aus Putlitz verzogen. Das Haus übernahm später Schuhmacher Schimmelpfennig.
Nummer 43, es soll das älteste noch erhaltene größere Gebäude der Stadt sein, ist das Gasthaus „Deutsches Haus“. Im Erdgeschoß mit dem Schankraum, stehen dem Besitzer außer im Obergeschoß neben der Küche und sonstigen Zweckräumen einige Privatzimmer zur Verfügung.
Eine breite Holztreppe führt zum Saal im Obergeschoß. Während in Friedenszeiten Tanzfeste, Vereinsvergnügen und Filmvorführungen in bunter Reihenfolge stattfanden, diente der Saal im letzten Kriege vorübergehend auch als Unterkunft für gefangene Soldaten.
Schließlich hatte Zahnarzt Dr. Carstens bis zum Umzug in die Perleberger Straße hier im Obergeschoß seine Wohnung und Praxisräume .
Das Haupthaus und die sonstigen Zweckgebäude im rückwärtigen Grundstücksteil werden durch den kurzen Verbindungsweg von der Königstraße zum Viehmarkt begrenzt.
Eigentümer waren früher eine Familie Bruns, dann Rudolf Schieffler. Das Objekt blieb jedoch nur kurze Zeit in seinem Besitz. Schleffler kaufte das Mühlengrundstück Zieskenbach bei Putlitz und veräußerte das „Deutsche Haus“ mit allem Zubehör an den Gastwirt Walter Garlipp, der es in der Folgezeit mit seiner Familie bewirtschaftete.
Rechts vom vorerwähnten Verbindungsweg endet mit zwei weiteren Grundstücken die Königstraße.
Haus Nummer 44, das Langesche Wohn- und Geschäftshaus. Im Erdgeschoß der Kolonialwarenladen mit Ausschankraum, hauptsächlich für die Bauern, deren Fahrzeuge bei Stadtbesuchen in der Ausspannung auf dem großen Hof abgestellt.wurden. Dieser Ausschankraum ist mir noch deswegen in Erinnerung, weil hier bei der Reichspräsidentenwahl 1924 die erste vom Landbund inszenierte öffentliche Radioübertragung stattfand, in der Generalfeldmarschall Hindenburg sprach, einer der Bewerber für das höchste Staatsamt. Seine Schlußworte waren, ich weiß es heute noch: Und wer mich
nicht wählen will, der läßt es eben bleiben!
Die Speicher- und Lagerräume begrenzen das Gesamtgrundstück zum Viehmarkt.
Haupterwerbsquelle war neben dem Ladengeschäft der Handel mit Dünge- und Futtermitteln. Außer dem Inhaber Kaufmann Otto Lange, der das Haus und Geschäft als Nachfolger vom Vater Oskar Lange übernahm, waren zwei kaufmännische Angestellte im Unternehmen tätig.
Otto Lange heiratete die Hausdame der Familie Tierarzt Eggert, aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor.
Im oberen Stockwerk wohnte der in kinderloser Ehe mit einer Gerberstochter aus Perleberg verheiratete Bankvorstand Heinrich Conradi, Kassierer beim Bankverein Putlitz.
Der Bericht schließt mit dem Haus Nummer 45. Es gehört der Evangelischen Kirche zu Putlitz und war als Wohnhaus für den jeweiligen Oberpfarrer vorgesehen. Putlitz war früher ja Sitz einer Superintendantur. Nach Auflösung der vorerwähnten Dienststelle übernahm die Schule für die „Gehobenen Klassen“ der Volksschule auf der linken Seite des Erdgeschosses zwei Räume. Rechtsseitig wohnte Lehrer Julius Schust mit seiner Familie. Ehepaar Schust ist längst verstorben. Die Kinder,Charlotte, pensionierte Lehrerin und Sohn Gerhard,im höheren technischen Dienst, wohnen nicht in Putlitz.
Die Wohnung im Obergeschoß hatte Heinrich Dittmann mit seiner Tochter Lene gemietet.
Die anschließende Stadtmühle, von dem Grundstück der Oberpfarre durch den zum Wall führenden Weg getrennt, soll nicht unerwähnt bleiben. Sie wird durch die Wasserkraft der Stepenitz betrieben und bildet den eigentlichen Abschluß des Stadtbildes, denn jenseits des Flusses sind es „Am Mühlentor“ nur noch drei etwas tiefer
gelegene kleine Wohnhäuser und die Hinzesche Gastwirtschaft, unser altes Turnerlok‘al, die zum Bebauungsgebiet in diesem Sektor der Stadt gehören.
Die Mühle wechselte mehrmals den Besitzer. Auf Henning folgte Bolz und dann schließlich Rump.
Nach Jahrzehnten niedergeschrieben, können sich im Bericht hier und da gewisse Unebenheiten eingeschlichen haben und einige
Tatsachen vielleicht vergessen oder nicht erwähnt worden sein. Sei es drum. Der Leser möge selbst korrigierend und ergänzend eingreifen; ich wäre darüber nicht enttäuscht. Mir ging es hauptsächlich darum, in dieser so schnellebigen und wechselhaften Zeit das Erscheinungsbild der Menschen und Häuser unserer Königstraße festzuhalten, wie es sich im ersten Drittel dieses Jahrhunderts bot.
Soltau, am H. April 1988